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Staat gegen Oligarchie – geht es nur um eine Umverteilung der Milliarden?

Mittwoch, 10. September 2014 12:14 | Zugriffe: 4228 |

Michail Chodorkowski an der Universität in Zürich am 27.06.2014

Aus den Medien erfährt der westliche Bürger, wie scheinbar rechtslos und imperialistisch die Regierung der Russischen Föderation heute eingestellt ist. Dem russischen Volk seien viele Freiheiten beraubt worden und die restliche Welt befände sich unter der Gefahr einer Aggression seitens Russland. Nach dem Zerfall der Sowjetunion bejubelte man zunächst den Sieg über das "sowjetische Elend" und begrüsste den Wechsel in Richtung Demokratie und Freiheit, so wie der Westen es bereits vorgezeigt hatte. Der Weg dorthin schien zwar steinig, doch im Westen zweifelte kaum jemand daran, dass Russland auf dem richtigen Weg war. Die Lage änderte sich aber scheinbar abrupt seit Amtsantritt von Vladimir Putin. Chodorkowski ist nicht der einzige Russe, welcher das zu spüren bekam. Vor zahlreichem Publikum berichtete er am 27.06.2014 in der Universität Zürich über seine persönliche Erfahrung und das heutige Rechtssystem in Russland (Aufzeichung: http://www.eiz.uzh.ch/vortraege/oeffentliche-vortraege/).

Im nachfolgenden Kommentar zu seiner Rede suchen wir nicht nur nach wirklichen Motiven für die Machtübernahme über das Kapital der Oligarchen unter der “Putin-Regierung”. Wir analysieren auch Chodorkowskis Thesen und versuchen durch systemisches Denken den politischen, oder im weiteren Sinne soziologischen Mechanismus des Geschehens zu verstehen.

Junge Menschen sind unsere Zukunft. Sie sind kaum vorbelastet und müssen ihr Wissen und Erfahrung in jeder Hinsicht erst noch aufbauen. Das weiss auch Michail Chodorkowski. Er richtet seine Rede gezielt an Studenten, denn er weiss, dass in ihren Köpfen noch kein stabiles Weltbild gefestigt ist. Im Prinzip ist es gut und auch sinnvoll, wenn unterschiedliche Menschen unterschiedliche Sichtweisen und Meinungen zu bestimmten Themen äussern können. Ein selbstständig denkender offener und erfahrener Mensch kann sich dadurch nur bereichern und sein individuelles Weltbild erweitern oder verfeinern. Solange der Mensch jedoch noch kein eigenes festes Standbein – eine feste Grundlage in den Bereichen Lebenserfahrung, Weltanschauung und Moral – gebildet hat, stützt er sich zu oft an Autoritäten und eignet sich schnell ihre Ansichten an. Autoritäten spielen eine grosse Rolle in der Gestaltung der Lebenseinstellung und Weltauffassung eines wachsenden Menschen. Es bleibt nur zu hoffen, dass in heutigem liberalen Lebensraum unsere Autoritäten menschlich, ehrlich und moralvoll sind - vom adäquaten Weltverständnis ganz zu schweigen. Uns fehlt eine tüchtige Methodologie, welche uns die Wahrheit von Irreführung zu unterscheiden hilft. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf versuchen wir nun zu verstehen, was uns Herr Chodorkowski zu erzählen hat. Er redet über Russland und den Zustand der dortigen staatlichen Rechtsordnung.

Regelbarkeit des russischen Rechtssystems

Chodorkowski’s Hauptaussage besteht darin, dass das russische Rechtssystem einer subjektiven Regelung (oder Steuerung) unterliegt, also einem subjektiven Willen einzelner Personen oder einer Gruppe (in diesem Fall dem engen Personenkreis des Staatspräsidenten Putin). Aus diesem Grund bestehe in Russland kein objektives Recht. Alle schwerwiegenden Rechtsstreitigkeiten werden stets im Einklang mit dem Willen der Staatsregierung entschieden, bzw. gelöst. Das mag zum Teil auch stimmen und man kann endlos über diese Hypothese streiten. Viel effektiver wäre es jedoch zu versuchen, das Phänomen als etwas Ganzes zu betrachten und wichtige Zusammenhänge im soziologischen System zu verstehen. Denn zu oft und zu schnell neigen wir dazu, uns in Details und Einzelheiten zu verfangen, welche missverstanden werden können, wenn sie isoliert im Einzelnen betrachtet werden. Der Bezug zum Ganzheitlichen darf nicht fehlen.

Exkurs in die Regelungstheorie

Jeder „zivilisierte“ Bürger kennt 3 Hauptorgane der Staatsgewalt: die gesetzgebende Legislative, die vollziehende Exekutive und die rechtssprechende Judikative. Das sind staatliche Strukturen, die festgeschriebene Funktionen erfüllen. Dem gegenüber steht ein objektives, lebendiges soziale System – die Staatsbevölkerung, welche geführt werden muss. Wissenschaftlich betrachtet haben wir mit einem sozialen Regelungssystem zu tun: die staatlichen Regelungsstrukturen (Staatsgewalten) auf der einen Seite - die objektiven soziologischen Prozesse auf der anderen Seite. Ein ganzheitliches Regelungssystem besteht jedoch aus weiteren Regelungsstrukturen / sozialen Institutionen.

So wie technische Ingenieure bestimmte Ziele setzen und technische Konzepte entwickeln, um bestimmte technologische Prozesse zu regeln, so erfordert auch ein sozialer Prozess im Prinzip ein bestimmtes „Regelungskonzept“, welches ebenfalls bestimmte Ziele in sich trägt. Das ist die Basis für eine subjektive Regelung objektiver Prozesse. Das Vorhandensein eines „Konzepts“ ist kein Wunsch, sondern eine objektive Tatsache. Es ist nur die Frage, ob das gewisse Konzept offiziell deklariert und bewusst wahrgenommen wird oder nicht. Die Konzeption umfasst in Bezug auf das zu führende soziale System mindestens die folgenden Punkte:

  • Analyse objektiver Möglichkeiten

  • Festlegung der Ziele

  • Beschreibung der Wege, Prinzipien und Methoden zur Erreichung der definierten Ziele

  • Erstellung von Regelungsstrukturen

Im Gegensatz zu technischen Systemen, wo die Regelung auf direktem Weg durch ein bestimmtes technisches Konstrukt realisiert wird, erfordert ein soziales System eher ein indirektes Regelungsmechanismus. Das Regelungskonzept muss also in eine lebendige und verständliche Sprache für die Gesellschaft “übersetzt“ werden. Dafür wird eine gewisse Umwelt geschaffen, die wir “Ideologie” nennen, oder im weiteren Sinne “Kultur”, welche auf indirektem Wege zur Realisierung des Regelungskonzepts führt. Die Kultur ist demnach im Grunde genommen die “Verpackung” eines Regelkonzepts in eine für die Massen verständliche Sprache. Die dominierende Ideologie heute, welche oft als eine “Errungenschaft der aufgeklärten Zivilisation” betrachtet wird, ist der „Bourgeois-Liberalismus“ mit der kapitalistischen freien Marktwirtschaft, Freiheit und Menschenrechten. Der Liberalismus mit seinen deklarierten Idealen ist demnach nur ein Mittel zum Zweck. Der Zweck ist das darüberstehende Regelungskonzept mit seinen realen Zielen. Nun während die “ideologie-schaffenden” Institutionen heute grösstenteils offensichtlich und bekannt sind („Hollywood“, Massenmedien, Werke bekannt gewordener Wissenschaftler und Künstler, Forscher und Entwickler, Mode- und Konsumbranche), verbleibt das Institut der konzeptuellen Macht im Hintergrund als ein “unfassbares und abstraktes Phänomen”. Der Grund der “Unsichtbarkeit” liegt in weltanschaulichem Standard des Betrachters, welchen er wiederrum aus der Kultur schöpft. Unter Kultur verstehen wir nicht nur die Überlieferung von Kunstwerken, Mentalität und Ethik, sondern im Prinzip alles, was von Menschenhand geschaffen worden ist und über Generationen weitergegeben wird (u.a. alle Wissenschaften, Techniken und Technologien).

regelsystem

Staatliche Gewaltsorgane

In ganzheitlichen Betrachtung des soziologischen Regelungssystems können wir die Funktionen der staatlichen Gewaltorgane wie folgt einordnen:

  • Die Gesetzgebung ist der schriftliche Ausdruck der Prinzipien und Algorithmen der gesellschaftlichen Selbstbestimmung und der staatlichen Regelung, die stets im Einklang mit dem herrschenden Regelungskonzept sind. (Regelung ist immer konzeptuell bedingt und die Gesetzgebung ist überwiegend ein Ausdruck des Konzepts).

Die Funktion der rechtssprechenden Gewalt besteht dementsprechend in:

  • Sicherstellung des definierten Standards im Rahmen des herrschenden Regelungskonzepts

  • Konfliktlösung zwischen den einzelnen lokalen Regelungsprozessen, die innerhalb des herrschenden Konzepts auftreten können

  • Schutz des Regelungssystems vor alternativen Regelungskonzepten. (d.h. das dominierende Konzept hat einen Mechanismus, welcher die Rolle eines Wächters erfüllt und keine Regelungsprozesse zulässt, die auf alternativen Prinzipien basieren)

Die staatlichen Gewaltorgane sind also Strukturen, die einem bestimmten Konzept dienen. In der globalisierenden Welt von heute gibt es kaum Staaten, die bis in die konzeptuelle Ebene selbstbestimmend sind. Die konzeptuelle Macht agiert heute auf globaler Ebene. Demzufolge dominiert heute auch weitgehend eine einheitliche spezifische Kultur über die meisten Staaten. Fast jeder Staat erfüllt dabei jeweils seine spezifische Funktion im Rahmen des global dominierenden Regelungskonzepts. Die Globalisierung ist demnach zwar ein objektiver soziologischer und globaler Prozess, welcher jedoch einer subjektiven Regelung unterliegt.

Situation in Russland

Der „mächtige Präsident Putin“ ist hier keine Ausnahme. Er ist auch innerhalb seines „Russischen Reiches“ nicht konzeptuell selbstbestimmend. Sein Handlungsspielraum ist ebenfalls stark eingeschränkt. Das russische Kredit- und Finanzwesen z.B. ist eine Struktur des dominierenden westlichen Globalisierungskonzepts, auf die Putin kaum Einfluss hat. Die Russisch-Orthodoxe Kirche bleibt ebenso unantastbar. Auch den „Hollywood“, als eine der konzept-transformierenden Strukturen kann der russische Präsident für Russland nicht abschaffen. Der Liberalismus, als ideologischer Ausdruck des herrschenden Globalisierungskonzepts ist sogar in der russischen Verfassung gefestigt. Das sind nur einige Beispiele dafür, dass die Regelung der soziologischen Prozesse in Russland nicht komplett der staatlichen Oberhand unterliegt. Doch wie steht es mit dem Gerichtswesen?

Der Charakter der Russisch-Westlichen-Beziehung lässt uns erkennen, dass es auf der politischen Ebene Reibungen gibt. Das ist ein indirekter Hinweis darauf, dass a) Putin das Phänomen der Globalisierung als einen subjektiv regelbaren Prozess erkannt hat und b) die Ziele und Prinzipien des herrschenden Globalisierungskonzepts nicht lautlos hinnehmen und unterstützen möchte. Als Resultat sehen wir einen scheinbar autoritären Staat, der nicht den „zivilisierten westlichen Weg“ gehen möchte. Chodorkowski behauptete in seiner Rede mehrfach, der russische Regierungsapparat habe seine Hände fast überall drin, mit dem Ziel der materiellen Selbstbereicherung. Versuchen wir nun die wirklichen Motive der minuziösen und übermässigen Einmischung Putins in die Geschäfte der Oligarchen herauszufinden.  Welche sind die realen Ziele? Schauen wir hierzu einige Fakten an.

Chodorkowski erzählte uns über seine Pläne, eine Gasleitung nach China zu bauen und beteuerte, wie niedrig die Kosten dafür gewesen wären, welche in vollem Umfang durch Privatinvestitionen gedeckt worden wären. Nach der “Beseitigung” von Chodorkowski musste der russische Staat nun das zig-fache für den Bau der gleichen Gasleitung bezahlen, was voll auf Kosten der Steuerzahler geschehen ist. Aber erstens wissen wir aus Lebenserfahrung, wie sehr sich Kostenpläne von den tatsächlichen Aufwendungen bei Bauprojekten unterscheiden können (auch in westlichen Ländern) und zweitens vermittelt die Geschichte aus Nefteyugansk, der Stadt, in der Yukos zu seiner Zeit Öl gefördert hat, ein anderes Bild:

„Die Bevölkerung von Nefteyugansk muss reduziert werden – von 100‘000 bis auf maximal 30‘000 Einwohner, welche für Yukos arbeiten sollen. Ein Wachstum der Stadt störe nur dem Ölgeschäft!“,

sagte Chodorkowski persönlich im Jahr 1997 bei einem Treffen mit der Stadtadministration von Nefteyugansk. Die Menschen, welche damals für petuhovYukos gearbeitet haben erinnern sich, wie sie ihre Yukos-Aktien für Nahrung umtauschen mussten, weil das Unternehmen „wachsen müsse“ und die Löhne monatelang nicht ausbezahlte. Der Höhepunkt wurde im Jahr 1998 erreicht, als der damalige Bürgermeister Vladimir Petuhov ermordet wurde. Er hatte sich als Erster getraut, öffentlich gegen die menschenverachtenden Methoden der Geschäftsführung Yukos‘ zu äussern und die ausstehenden Steuern einzufordern. Das war nicht der einzige Fall, in dem Yukos unter der Führung von Chodorkowski über Leichen ging, um eine Maximierung des Gewinns zu erreichen. Viele Beobachter bewerten den Mord als ein “Geburtstagsgeschenk an Chodorkowski”, weil die Tat genau am Geburtstag von Michail Chodorkowski, am 26. Juni 1998 geschehen ist. Auch trotz dieser Fakten bleibt es sehr bemerkenswert, wie ein “sozialistisch” vorbelasteter Mann sich plötzlich innerhalb von einigen Jahren zum Milliardär „verdienen“ kann. Während im Westen solche Geschäftsleute wie z.B. Bill Gates etwas Neues schöpfen und so ihr Vermögen über Jahrzehnte aufbauen, werden in Russland die natürlichen Erdressourcen kurzerhand privatisiert und am Staat vorbei ins Ausland verkauft. Die Oligarchen sind nach dem Zerfall der Sowjetunion wie Pilze aus dem Boden gewachsen. Wenn nicht nur der Spielverderber Putin diese „kapitalistische Freiheit“ unterbunden hätte. Es ist dabei fast selbstverständlich, dass eine Innenpolitik im nationalen Interesse für die Oligarchen wie ein Dorn im Auge war. Und so heulen die eingeengten „Kapitalisten“ auch heute immer noch darüber, dass der Staat ihnen den Fressnapf weggenommen hat, um mit dem Rest der Bevölkerung zu Teilen. Es bleibt ein Rätsel, ob Chodorkowski tatsächlich davon überzeugt ist, dass gerade der „liberale Kapitalismus“, ohne Einmischung des Staates, Russland zum Erblühen gebracht hätte. Vielleicht will er aber nur sein altes Gesicht nicht verlieren und deshalb seine Gräueltaten nicht direkt zugibt.

Als Staatspräsident muss Putin im nationalen Interesse seines Landes handeln. Die Richtung der „Putin-Regierung“ können wir in der folgenden Statistik erkennen.

Indikator

Änderung über den Zeitraum

2000 – 2013

Bemerkung,

Quelle

Bruttoinlandprodukt

+ 75 %

BIP real, Bezugsjahr 2005

Quelle: Weltbank

Bruttoinlandprodukt

Wachstum

+ 4.88 % jährlich

Im Durchschnitt

Quelle: Weltbank

Bevölkerungszahl

- 2,45 %

Quelle: Statistisches Amt der Russischen Föderation

Elektrische Energie Erzeugung

+ 120 %

Hier im Zeitraum 2000 bis 2011

Quelle: Weltbank

Elektrische Energie Verbrauch

+ 121 %

Hier im Zeitraum 2000 bis 2011

Quelle: Weltbank

Inflationsrate

- 67 %

Auf Basis von Verbraucher-Warenkorb

Quelle: Weltbank

Direkte Investitionen aus dem Ausland

+ 29.2-fach

Aus Zahlungsbilanz

Quelle: Weltbank

Direkte Investitionen aus dem Ausland (in Bezug auf das BIP)

+ 3.6-fach

Quelle: Weltbank

Wertschöpfung im Industriesektor

+ 56 %

Quelle: Weltbank

Höhe der Löhne

+ 13.4-fach

Quelle: Statistisches Amt der Russischen Föderation

Höhe der Renten

+ 12-fach

Quelle: Statistisches Amt der Russischen Föderation

Arbeitslosigkeit

- 48 %

Quelle: Weltbank

Straftaten

(gesamt)

- 25 %

Quelle: Statistisches Amt der Russischen Föderation

Morde

- 61 %

Quelle: Statistisches Amt der Russischen Föderation

Lebenserwartung

+ 4.5 %

Quelle: Human Development Report 2014 (UNDP)

 

Eigentlich sprechen die Zahlen für sich. Doch gibt es trotzdem einige Kritiker dieser Statistiken, die sie „staatliche Propaganda“ nennen. In der Tat lassen sich gewisse Fakten in einer Statistik so auslegen, dass ein gewisser Eindruck entsteht, den der Autor erwecken will. Z.B. werden oft Zahlen präsentiert, die nur über einem begrenzten Zeitraum liegen, in dem die Tendenz tatsächlich mal eine andere Richtung hatte. Gleichzeitig werden andere Zahlen über einen anderen Zeitraum gezeigt, die die Tendenz scheinbar bestätigen. In ganzheitlichen Betrachtung, über einen grösseren Zeitraum gesehen, würde die Statistik jedoch eine ganz andere Sprache sprechen. In der obigen Tabelle sind aus diesem Grund mehrere Parameter stets über denselben Zeitraum dargestellt, damit die Gesamtentwicklung seit Putins Machtantritt ersichtlich wird. Das Ziel „seiner“ Regierung ist damit gesprochen. Zu glauben, diese Entwicklung falle vom Himmel, kann nicht ernst sein. Es wird auch klar, warum „das Recht in Russland so sehr volatil ist und die Gesetzesänderungen zu schnell erfolgen“, wie Chodorkowski es in seiner Rede feststellte. Wenn ein Staat bewusst ein klares politisches Konzept mit fest definierten Zielen verfolgt, dann ergibt sich die entsprechende Gesetzgebung wie „Einspluseins“. Das ist ein klarer Ausdruck der zielgerichteten Entschlossenheit, was sich im realen Leben widerspiegelt. Zwar hat Putin nicht die volle konzeptuelle Selbstbestimmung und kann deshalb nicht über alle wichtigen Fragen entscheiden, das Mass seiner Souveränität ist dennoch höher im Vergleich zu vielen ranghohen Politiker der westlichen Länder. Diese Tatsache ist auch die Ursache für seine Unbeliebtheit bei den dominierenden Globalisierungsmächten.

Chodorkowski's Erklärungen

Gemäss Chodorkowski betrügt der russische Staat unter der Hand von Putin sein eigenes Volk und beutet es aus – und das seit Jahrzehnten. Dabei zeigte eine Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungszentrums Lewada, dass 82% der russischen Bürger, Putins Arbeit sogar befürworten (stand: April 2014). Der Böse Präsident betrügt und beutet das Volk aus und dabei lieben ihn seine Opfer! Eine unglaubliche Meisterleistung seitens Putin! Chodorkowski hat dafür eine Erklärung: er nennt das „Stockholm-Syndrom“ – ein psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Man könnte dem tatsächlich glauben – der Glaube hätte dann aber nichts mit Wissen zu tun. Es ging fast schon ins Lächerliche hinaus, als Chodorkowski noch weitere Erklärungen von sich gab: „damit die russische Bevölkerung all das Propaganda und die Ungerechtigkeit ertragen könne, bediene sich die oberste Schicht der Methode aus dem römischen Reich: Brot und Spiel für die Massen“. Wenn wir uns genau umschauen, werden wir dieses „Stillhaltungsprinzip“ in allen westlichen Ländern zu aller erst erkennen. In Russland scheint es jedoch speziell zu sein. Und falls jemand mit dieser Erklärung immer noch nicht zufrieden war, dann bot Chodorkowski noch eine weitere an: „es herrsche eine Art Nazifizierung des russischen Volkes, so wie das zu seiner Zeit in Deutschland der Fall war oder heute in Nordkorea“. Chodorkowskis Zielpublikum ist damit aufgeklärt: das russische Volk leidet unter dem Stockholm-Syndrom, weil es durch Brot und Spiel ruhiggestellt wird und entwickelt sich dabei in Richtung der nazistischen Ideologie.

All diese Aussagen lassen uns erkennen, dass Chodorkowski eine schwere Zeit hinter sich hatte und wegen des Harms und Erbitterung die Realität nicht erkennen will oder sogar nicht mehr kann. Einen Funken der Erkenntnis haben wir jedoch herausgehört, als er sagte: „Ich habe nicht weise gehandelt, sollte mich fernhalten von der Politik und auf staatliche Unterstützung setzen.“ Das Gewissen lebt und redet mit dem Menschen. Dass er zu seiner Blütezeit als Oligarch nicht dem Volk dienen wollte, bestätigte er auch indirekt durch die Aussage, er habe bisher immer die Position einnehmen müssen, welche von ihm gefordert war. So musste er als Chef eines Unternehmens stets die Interessen seiner Aktionäre berücksichtigen, was ihm nicht gelungen sei, wie er auch bestätigte. Er wolle das nicht mehr machen. Heute fühle er sich sehr wohl, weil er nun ausschliesslich für sich alleine sein kann und endlich seinen eigenen Wünschen nachgehen kann, was er offensichtlich vermisst hat.

Zusammentreffen von Zivilisationen

Kommen wir nun zurück zum Globalisierungsprozess. Um die Essenz zu erkennen, sollen wir uns über den Wald der Einzelheiten erheben und eine Vogelperspektive erlangen. Im globalen historischen Prozess erleben wir heute das Zusammentreffen zweier unterschiedlicher Globalisierungswege:

  1. Der Bourgeois-Liberalismus auf Basis der kapitalistischen freien Marktwirtschaft mit den Hauptattributen „Individualismus“, „Freiheit“ und „Privateigentum“, wo die Gerechtigkeit als ein Nebeneffekt erwartet wird. Das übergeordnete Konzept oder wenigstens die Ziele werden dabei nicht deklariert. Alles entwickelt sich scheinbar von selbst, ohne einer konzeptuell bedingten Regelung;
  2. Ein menschen-orientiertes Modell, in dem alle soziologischen Subsysteme einem gemeinsamen übergeordneten Ziel dienen – der Gerechtigkeit. Die Freiheit wird dabei nicht als ein absolutes Privilegium des Individuums angesehen, sondern sie ist stark mit dem Begriff der Gerechtigkeit verknüpft. Unter Gerechtigkeit verstehen wir nicht eine unanfechtbare Gehorsamkeit gegenüber dem Gesetz, sondern ein gewisses moralisches Phänomen, das auf Gewissen basiert. Die Kultur soll den Menschen in diesem Rahmen dahin fördern, sein schöpferisches Potential zu erkennen und zu entwickeln. Die Tatsache, dass heute so etwas als abstrakt und realitätsfremd angesehen wird ist kein Gegenargument. Wir werden Neues lernen (siehe 17. Jahrhundert, als Kopernikus am Weltbild der Kirche gerüttelt hat und als Ketzer erklärt worden ist). Die Evolution des Wissens schreitet auch heute voran.

Wir befinden uns im historischen Zeitalter der globalen Transformation. Es geht dabei nicht in erster Linie um Kapital. Es geht auch nicht um Selbstdarstellung oder Selbstbereicherung, wie das so gerne die westlich-gesinnten Kritiker darlegen. Es geht um viel mehr! Es ist ein Wettkampf der Weltanschauungen. Es geht um grundlegende Prinzipien, welche die Richtung der globalen Entwicklung der Zivilisationen vorgeben. Es geht um die Zukunft der Menschheit und damit um die Dominanz in der Regelung des Globalisierungsprozesses. Jeder entscheidet dabei für sich, ob er die Globalisierung als einen regelbaren Prozess verstehen will und welches Konzept er bevorzugt. Das scheint nicht gerade einfach zu sein, weil das Informationsumfeld, welches uns umgibt, ziemlich einpolig ist und die Welt stets im Rahmen des bereits herrschenden Konzepts aufmalt. Doch tief im Menschen steckt die Vernunft. Durch Willen und Disziplin können wir den Verstand von der voreingenommenen Last der Stereotypen befreien. Dabei müssen wir nicht allwissend sein. „Die Kenntnis bestimmter Prinzipien kann leicht die Kenntnis bestimmter Tatsachen ersetzen“, stellte einmal der französische Philosoph Claude-Adrien Helvetius fest. Das bedeutet, dass das Wissen über bestimmte Prinzipien der soziologischen Regelung erleichtert uns Fakten gezielt zu sortieren und den Hintergrund bestimmter Geschehenisse grundlegend zu begreifen. Ferner werden gezielt nach anderen Fakten fragen können, über welche wir wissen werden, dass sie in bestimmten Fällen vorhanden sein müssen, aber uns gegenüber verschwiegen werden. Das Begreifen von prinzipiellen soziologischen Gesetzmässigkeiten eröffnet uns eine Methodologie, welche nicht nur Desinformation ausfiltern, sondern auch neue Erkenntnisse schaffen kann.

Eine tiefgründigere Erforschung dieser Thematik nehmen wir uns in den nächsten Veröffentlichungen vor.

 

 

 

 

 

 

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